Wir rücken als kleine Gruppe in einen Pub ein – urgemütlich und gar nicht mal so laut. Am Nachbartisch sitzen zwei Männer und sehen zu, wie langsam ihr Bier weniger wird. Die Bierdeckel kommen uns sehr vertraut vor, wie eine Luther-Rose. Sorry, I’ve got a question. Interessiert laden sie mich zu sich ein. Wie kommt Luther nach Bradford? Ah, you come from Germany! Aber diese Rose hat nichts mit dem Reformator zu tun. Es ist die weiße Rose von Yorkshire, das Symbol des Herrschaftshauses. Das Zeichen des ständigen Widerstreits mit Lancashire und deren roter Rose. So sind wir mitten in unserer Geschichte, mal der deutschen, mal der englischen. Und ganz schnell sind wir auch bei der Gegenwart: dem allgegenwärtigen Brexit, dem Niedergang der Textilindustrie und der Stärke (oder Schwäche) der Gewerkschaften. Inzwischen wird es lauter im Raum, alle reden sich warm und die Gläser sind längst nachgefüllt. Eins ist klar: glücklich sind sie alle nicht mit der aktuellen Entwicklung. Aber was soll man machen, die Kontrolle ist längst verloren und jetzt kommt es darauf an, das Beste aus dem Scherbenhaufen zu machen. Ändern können wir es nicht, so wenig wie das wechselhafte Wetter hier. Doch es gibt gutes Bier, nette Menschen und irgendwie wird es weiter gehen. Treffen wir uns mal wieder, in Erfurt, in Yorkshire oder sonstwo auf der Welt?
Am Montagnachmittag trafen wir im Ballsaal unseres Hotels den Bischof von Bradford Toby Howarth. Er kam, uns in Bradford zu begrüßen und uns von der Situation der anglikanischen Kirche in Bradford zu berichten. Seit 1992 besteht die Partnerschaft zwischen unserem evangelischen Kirchenkreis Erfurt und der Diözese Bradford. Durch rege Besuche hin und her hat sie an Lebendigkeit nicht verloren. Bischof Toby berichtete über die Situation der anglikanischen Kirche in Bradford. Die Anzahl der Kirchenmitglieder wird weniger, dagegen steigt die Anzahl der Menschen anderer Glaubensgemeinschaften. Er sieht seine Aufgabe nicht nur darin, den anglikanischen Glauben zu verteidigen, sondern Glauben überhaupt. Kirche muss Raum für andere Glaubensformen bieten und darf sich dabei selbst nicht verlieren. In diesem Spannungsfeld sieht sich der Bischof. Darüber wollte er sich mit uns austauschen. „Was würden Sie an meiner Stelle machen? Haben Sie Ideen?“ Leider war die Runde zu groß und die Zeit zu kurz um richtig miteinander ins Gespräch zu kommen. So erzählte er weiter. Davon, dass sich aus dem Nebeneinander der Multikulturalität eine Interkulturalität entwickelt hat. Dieser Prozess ist noch nicht zu Ende. Es geht nur miteinander. Die Kirche in Bradford will sichere Räume schaffen. Für Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung, ihres Geschlechts oder aus anderen Gründen nicht offen reden können. Man muss offen und zugleich geschützt miteinander diskutieren können. Damit Rechtsnationalisten keinen Raum haben. In Bradford soll Kirche in der City sichtbar sein, auf die Menschen zugehen. Deshalb gibt es jetzt eine neue Kirche. Aus einem ehemaligen Nachtklub wurde ein neuer, etwas anderer Kirchenraum geschaffen. Wir waren beeindruckt. Gern hätten wir uns darüber weiter ausgetauscht. Aber schnell mussten wir weiter zum nächsten Termin.
Nach dem Treffen mit dem Bischof von Bradford eilten wir zum Rathaus. Dort waren wir zum Empfang bei der Oberbürgermeisterin von Bradford eingeladen. Die Oberbürgermeisterin Doreen Lee ist eine kleine, humorvolle und energische Dame. Mit wenigen Worten begrüßte sie uns. Fast hatte man den Eindruck, sie wolle die ganze Veranstaltung schnell hinter sich bringen. Wir überbrachten Grüße von Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein. Senior Rein sprach ein Grußwort im Namen des Kirchenkreises. Und wir brachten Musik ins Rathaus. Mit Mendelssohns „Jauchzet dem Herrn“ und Bachs „Ein feste Burg“ bedankten wir uns für die Einladung. Alle durften sich ins Gästebuch eintragen. Doreen Lee nahm sich dann doch Zeit für uns. Sie führte uns in den Sitzungssaal. Das gotische Rathaus ist ein Schmuckstück in der sonst nicht sehr repräsentativen Stadt. Im Saal erklärte sie uns die Zusammensetzung und die Gepflogenheiten des Stadtrates. Klar, dass wir nach ihrer Meinung zum Brexit fragten. Sie denkt europäisch, aber die Entscheidung sei demokratisch gefallen. Also hofft sie nun wenigstens auf einen Deal. Dann verschwand sie recht schnell. Glücklich mit der Situation schien sie keineswegs. Vielleicht ist unser Besuch gerade jetzt ein besonderes Zeichen europäischer Verbundenheit?